Meine Bibel

Die Bibel, die mich fast 50 Jahre begleitete

Vortrag zur Eröffnung der Bibelausstellung des CVJM in Brandis am 30. 8. 2003

Ich ziehe einen Gegenstand aus Leder aus der Hosentasche, zeige ihn und frage, was das ist? Portemonnaie, Etui, Brieftasche, Notizblock?

Eine ungewöhnliche Bibel. Sie gehört mir seit fast 50 Jahren.
Ich lese die Widmung vor:
"Zum fleißigen Gebrauch gewidmet von deinem Onkel Kurt. Palmarum 1957."

1957 war meine Konfirmation, und Kurt war mein Patenonkel im Westen. Bevor er mir eine Bibel schenkte, hatte er schon Päckchen geschickt mit Lebensmitteln, mit Schokolade und mit ein Paar Schuhen, als ich keine hatte. Und mich zweimal vier Wochen in den Ferien aufgenommen, obwohl er nur eine kleine Wohnung hatte. Jetzt aber meinte er, wichtiger als Schuhe, Schokolade und Geld wäre für den 14Jährigen die Bibel, ein Reichtum fürs ganze Leben.

"Zum fleißigen Gebrauch gewidmet" - das klingt wie "zum baldigen Verzehr bestimmt", etwas altmodisch formuliert. Wie kann man ein Buch gebrauchen? Natürlich lesen und anwenden.

Also nicht in den Bücherschrank, sondern zu den Schulsachen oder auf den Nachttisch oder in die Hosentasche. Und in den Rucksack, wenn es auf Tour ging. Da war der Ledereinband günstig und der Reißverschluss, da gab es keine Beschädigungen. Nur einmal drang das Fett durch den Reißverschluss, als ich im Sommer die Butter neben der Bibel im Rucksack hatte. Aber wie lesen? Immerhin stecken in dem kleinen Buch 1300 klein bedruckte Seiten.

Ich probierte die erste Methode: Von Anfang bis Ende durchlesen. Ich kam ganz gut voran und fand vieles sehr interessant: Kains Brudermord, die große Flut, Abrahams Aufbruch in fremdes Land, die Sklaverei in Ägypten und die Befreiung, der Zug durch die Wüste, die Eroberung Kanaans... Aber eines Tages klemmte der Reißverschluss, ging nicht mehr zu. (Besser, als wenn er nicht mehr auf geht.) Aber es klemmte auch mit dem Lesen. Gebote, Gebote, Stammbäume, Ermahnungen. Langweilig und teilweise unverständlich.

Deswegen ging ich über zur zweiten Methode: Blättern und lesen. Langweiliges überblättern. Wenn mich die Überschriften interessieren, wenn es so aussieht, als könnte es wieder spannend werden, lesen. So fand ich Geschichten von mutigen jungen Leuten und ihren Abenteuern, von Gebeten, die erhört wurden, von Menschen, die wegen ihres Glaubens verfolgt wurden. Auch über sexuelle Affären wurde erstaunlich offen berichtet. Aber die Helden der Bibel machten schwere Fehler, versagten und sündigten, und trotzdem ging Gottes Geschichte mit ihnen weiter. Was Jesus gesagt und getan hat, wie er gelitten hat und gestorben ist, das hat mich stark beeindruckt.

Dann gab es eine dritte Methode: Die fettgedruckten Stellen lesen. Besonders markante Sprüche sind in meiner Bibel fett gedruckt. Man kann sie auswendig lernen und als Konfirmations- oder Trauspruch verwenden, für einen Geburtstagsglückwunsch oder für eine Trauerkarte. Aber auf die Dauer ist das nichts, nur vom Fettgedruckten leben. Das ist wie Rosinen aus dem Kuchen herauspicken.

So landete ich bei der vierten Methode: Jeden Tag einen kleinen Abschnitt lesen. So wie ich jeden Tag die Zähne putzte und mein Frühstück verzehrte. Und ich fragte mich dabei: Komme ich in diesen Worten der Bibel vor? Wofür kann ich danken? Was mache ich verkehrt? Was kann ich von Gott erwarten? Was soll ich mir für heute vornehmen?

Durch die vierte Methode ist das so richtig meine Bibel geworden. Mein Leben und die Bibel - das gehört jetzt zusammen. Es ist erst recht spannend, wenn man das ausprobiert, was in der Bibel steht. Wenn ich der Jünger werde, der mit Jesus mitgeht. Der Sohn, der heimkommt zum Vater. Der Freund, der versagt hat und doch wieder akzeptiert wird.

Aber das geht nicht immer glatt. In meiner Bibel fehlen Seiten. Nicht nur, dass es ein paar lose Blätter gibt. Es sind auch Seiten richtig rausgerissen. Ich war das nicht, und ich weiß nicht, wie das kommt. Vielleicht haben meine Kinder, als sie klein waren, die Bibel mal in die Finger bekommen. Aber ich gebe zu, dass ich manchmal am liebsten Seiten aus der Bibel rausgerissen hätte. Es steht manches drin, was mir nicht passte. Aber mit Rausreißen oder Verbrennen kommt man der Bibel nicht bei. Wenn jeder hätte entfernen können, was ihm nicht passte, wäre heute von der Bibel nichts mehr übrig. Aber so ist sie uns erhalten, wie sie vor +/- 2000 Jahren geschrieben wurde. Die dunklen Seiten gehören dazu, auch die Widersprüche gehören dazu, so wie sie zum Leben dazu gehören.

Dieses Buch ist nicht meine einzige Bibel geblieben. Die hebräische und griechische Bibel habe ich studiert. Neue Übersetzungen sind dazu gekommen, Kinderbibeln, Bilderbibeln.
Drei will ich kurz erwähnen:
1. Als ich französisch gelernt habe, habe ich nebeneinander die französische und die deutsche Bibel gelesen und dabei sowohl die französische Sprache als auch die Bibel besser kennen gelernt.
2. Als ich in Meerane wohnte, haben wir selbst Teile der Bibel abgeschrieben und gemalt: 150 Leute haben sich daran beteiligt mit je einer Seite: unsere "Meeraner Bibel".
3. Ein Stück Bibel finde ich in jedem Dorf, in jeder Stadt Europas. Ich gehe in eine Kirche hinein und entdecke dort Inhalte der Bibel, geschrieben, gemalt, in Stein und Holz gehauen.

Zum Schluss ein kleines Erlebnis. Wir hatten in unserem Kirchgemeindehaus in Meerane einen Jugendkeller, einen Club, der mehr von nichtchristlichen als von christlichen Jugendlichen besucht wurde. Eines Tages ging ich durchs Haus und hatte die Bibel in der Hand. Ein Jugendlicher fragte mich danach und wollte mal reinschauen. Ich gab ihm die Bibel, er schlug sie nachlässig auf und rief plötzlich laut: "Da steht ja mein Name drin!" Er hatte das Buch Daniel aufgeschlagen. Ich sagte: "Ja, du kommst in der Bibel vor. Gott interessiert sich für dich."

Mein Onkel schrieb auf die erste Seite meiner Bibel:
"Öffne mir die Augen, dass ich schaue die Wunder an deinem Gesetz."
Psalm 119, 18